Ausbildung + Arbeit + Freizeit = Lohn

Herr und Frau Schweizer arbeiten, wie könnte es anders sein, 41,7 Stunden pro Woche. Da werden sich jetzt viele sagen: „Schön wär’s!“ Doch tatsächlich steht es so in der Statistik der betriebsüblichen Arbeitszeit 2011 vom Bundesamt für Statistik (BFS).

Fragt sich, wie das BFS auf diese Zahlen kommt. Man darf davon ausgehen, dass nicht einzelne Arbeitnehmer gefragt wurden, sondern die HR-Abteilung der Firmen und Betriebe. Kaum zu erwarten sind Antworten wie: „Klar halten sich unsere Mitarbeiter an die gesetzlich festgelegten Höchstarbeitszeiten. Sie sind zwar am Wochenende immer erreichbar und sollten sie auf Montag ein Meeting vorbereiten, tun sie dies ebenfalls am Wochenende, aber unsere  Bürozeiten sind klar festgelegt.“ Immerhin würde diese Aussage für manche Branchen der Wahrheit entsprechen, aber in einer Statistik haben Überstunden, die irgendwie nicht so wirklich definierbar sind, offenbar keinen Platz.

Die besagte Statistik ist eigentlich nicht aussagekräftig. Zählt man ein Meeting mit Mittagessen zur Arbeit oder zur Freizeit? Dass Journalisten abends öfters Anlässe besuchen, über die sie schreiben, interessiert weder Arbeitgeber noch Leser. Dass Anwälte im Notfall auch am Wochenende für ihre Klienten da sind oder einen Fall bis abends um 23 Uhr bearbeiten, wälzt man gerne auf deren Gehälter ab. Das funktioniert spätesten in der Hotelbranche nicht mehr. Auch hier sind die Mitarbeiter gefordert, gerade in den kleineren Hotelbetrieben.

Was nie erwähnt wird, sind die unzähligen Berufe, in denen man sich täglich über neuste Entwicklungen informieren muss. Nicht nur Journalisten zapfen ununterbrochen den Newsstrom an, auch Banker sind dazu verpflichtet, sich am Wochenende über sämtliche Finanzströme zu informieren. Wieder ist man geneigt, diesen Dienst auf das Gehalt abzuwälzen. Das mag für die Meisten von uns gerechtfertigt sein.

Keiner fragt je, wie lange ein Arzt, ein Anwalt, ein Journalist die Schulbank drücken musste und wie viele Überstunden er damals fürs Büffeln und seinen Broterwerb aufbringen musste.
Kommt hinzu, dass Journalisten, Psychologen, Anwälte oder Kunsthistoriker heutzutage einen beachtlichen Marathon an Praktika absolvieren – nach ihrer Ausbildung, wohlbemerkt. Dabei arbeiten sie meistens voll mit und tragen zum Gewinn des Unternehmens bei. Über ihren Lohn während dieser Zeit würden sich die Kellner, Coiffeure, Fussball- und Tennisstars einen Schranz in den Bauch lachen. Letztere beiden lachen sich vermutlich auch über den Lohn von ausgebildeten Anwälten und den allermeisten Bankern ins Fäustchen.

Hoher Preis für den Lohn
Junge Leute, die noch keine eigene Familie haben und voller Ehrgeiz und Elan sind, scheinen ihre Überstunden gerne zu vergessen. Sie wollen schliesslich weiterkommen. Sobald jedoch eine Familie zuhause wartet, würden die meisten Arbeitnehmer vermutlich gerne ein paar Hunderter gegen ein paar freie Stunden tauschen.
Lohn ist also nicht gleich Lohn. Für die einen ist es einfach nur Geld, für andere ist es die Anerkennung und die Beförderung. Wieder andere schätzen die Flexibilität, wenn sie von Zuhause aus arbeiten können – auch unter der Woche.

Fazit: Wir sollten uns hüten, Ausbildung und Arbeit ausschliesslich mit finanziellem Lohn ausgleichen zu wollen.

Mit 28 Jahren absolviere ich immer noch den Marathon von Praktika im Journalismus und habe neben her Schreibjobs, um mein Gehalt aufzubessern (durchschnittliche Wochenstunden: 60). Ich habe ein abgeschlossenes Germanistikstudium und hoffe dennoch, dass ich die Diplomausbildung im Journalismus noch machen darf. Sie kostet mindestens 22‘000 Franken. Ich werde also vermutlich auch mit 32 Jahren noch in einer Vierer-WG wohnen, weil ich mir ein Zimmer, das teurer als 700 Franken ist, nicht leisten kann. Auch an Kinder ist längerfristig nicht zu denken.
Diesen Weg habe ich selber gewählt. Glücklich bin ich damit nicht immer, aber die Privilegien und Verantwortung, die ich mir erarbeitet habe sind mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen.

Wer der Überzeugung ist, Banker (und ich spreche nicht von Managern), Anwälte, Staatsbeamte oder Superstars verdienen zu viel, der sollte sich, darüber im Klaren sein, was es heisst, einen solchen Job zu bekommen und auszuüben.

Sabina Galbiati