Olympischer Geist – wo bist du?

Gebe es Usain Bolt nicht, hätte ich von Olympia wohl fast nichts mitbekommen. Das heisst, nichts wirklich Positives.

Ich rede nicht von Medaillen und Rekorden. Davon hören wir genug. Jeden Tag geht es in den Medien um Medaillen und Rekorde. Als wären die olympischen Spiele Meisterschaften, bei denen es nur ums gewinnen geht. Olympia ist doch so viel mehr!

In der Antike fanden die Spiele zu Ehren der Götter statt. Mehr als 1500 Jahre später, im Jahr 1894, wurde die Wiedereinführung der Spiele beschlossen. Die Idee dazu kam von Pierre de Coubertin. Coubertin hatte erkannt, dass Sport das ideale Mittel ist, um junge Menschen aus aller Welt zusammenzubringen. Genau darum geht es: Die ganze Welt feiert – feiert nicht nur ihre nationalen Helden sondern sich selbst. Wir feiern, dass wir in einer Welt leben, in der alle fünf Kontinente gemeinsam friedlich eine riesiges Sportfest veranstalten. Wer am Ende gewinnt, ist zwar wichtig – doch wichtiger ist es, dabei zu sein.

Ich bin sicher, dass viele Sportlerinnen und Sportler genauso denken. Doch was bei vielen Zuschauern ankommt, ist etwas anderes. Da fallen in Zusammenhang mit China und Südkorea Worte wie Grossangriff und Vormarsch. Wenn die saudischen Springreiter gewinnen, dann dank des Geldes aus dem Ölstaat. Ausserdem ist Doping eigentlich fast immer Thema Nummer 1.

Nun haben wir, wenn wir die Fakten vor uns sehen, zwei Möglichkeiten: Wir boykottieren Olympia oder wir feiern das grösste Friedensfest der Welt – dann aber im Sinne des Erfinders. Boykottieren gestaltet sich als schwierig: Erstens werden wir ständig mit Olympia konfrontiert, zweitens freuen wir uns ja doch über «unsere Heldinnen und Helden».

Gemeinsam feiern macht mehr Spass

Daher schlage ich vor: Feiern wir, aber richtig. Freuen wir uns zusammen mit anderen Nationen. Viele arbeiten in internationalen Teams. Was liegt es näher, sich gemeinsam über Siege zu freuen? Ich gratuliere allen Russen zu Jewgenija Kanajewa, die vielleicht den Einzelwettbewerb der Sportgymnastinnen gewinnen wird – ich drücke ihr die Daumen. Und vielleicht gewinnt das brasilianische Team Gold im Fussball? Und klar, dass ich Bolt weiterhin mit Spannung verfolge. Wenn China am Ende die meisten Medaillen gewinnt, gehe ich vielleicht chinesisch Essen, gemeinsam mit Kollegen. So können wir uns jeden Tag ein bisschen freuen. Und schnell entstehen interessante Unterhaltungen über verschiedene Mentalitäten im Sport, unterschiedliche Trainingsarten, kulturelle Unterschiede, welche Sportarten besonders beliebt sind, und, und und…  Beim Fussball, sei es Europa- oder Weltmeisterschaften, machen wir das eigentlich schon lange so. Wieso nicht auch bei Olympia?

Wenn wir in unserem privaten Umfeld oder mit unseren Arbeitskollegen die Spiele zusammen feiern und den Medaillenspiegel ein bisschen ausblenden, ist schon viel gewonnen. Denn am Ende soll doch der olympische Geist gewinnen!

 Janine Wolf